Wolfgang Berndsen ist Anhänger des MSV Duisburg und hat eine Mission:

Niemand soll eine komplettere Sammlung über einen Bundesligaverein haben als er.

Lückenlose Leidenschaft

VON JOHANNES NITSCHMANN

Wolfgang Berndsen guckt den Kickern seines Lieblingsclubs zuallererst auf die Finger. Nicht Ballführung und Schußtechnik der Fußwerker sind für den 50jährigen Fan des MSV Duisburg das Maß aller Dinge. Für ihn ist der individuelle Namensschriftzug der Schlüssel zum Charakter eines Kickers. "Da gibt et welche, die einfach so'n Kringel dahinzirkeln", knüttert Berndsen mit Leichenbittermiene. Das seien nicht selten Spieler, die sich auch auf dem grünen Rasen schnell als "Laumalocher" entpuppten, die mit möglichst wenig Aufwand über die Runden zu kommen versuchten.

"Hier", zieht Berndsen einen seiner zahllosen Autogrammordner hervor und setzt sein Sonnenscheingesicht auf, "guck' mal den Alfred Nijhuis, immer mit Vor- und Zunamen ausgeschrieben, ein ganz feiner Mensch. "Stundenlang kann sich der Autogrammsammler an den über 4000 Schriftzügen der MSV-Kicker ergötzen, die sich seit 1963, dem Start der Bundesliga, bei ihm verewigt haben. "Der Slobodan Komljenovic", bricht es beim Blättern der Ordner aus dem eher introvertierten Berndsen begeistert heraus, "gestochen scharf, einfach affengeil "Selbst bei dem Autogramm eines Ersatztorhüters kommt helle Freude auf. "Das ist Gintaras Stauce, immer toll geschwungen, einfach ein Gedicht."

Wolfgang Berndsen in seinem Kicker-Tempel

Wolfgang Berndsen in seinem Kicker-Tempel

Berndsen wird von einer manischen Sammelwut getrieben. Alles, was ihm aus der 105jährigen Geschichte des MSV Duisburg in die Finger kam, hat er aufgehoben, geordnet und akribisch katalogisiert. Unter dem Dach seines schmucken Eigenheims im grünen Duisburger Süden ist so auf knappen 60 qm Deutschlands spektakulärstes Fußballmuseum entstanden. Hier, in einer beschaulichen Wohngegend mit geduckten Reihenhäuschen, schlägt das Herz des MSV. Ein weihevoller Kicker-Tempel, dessen Decke und Wände mit unzähligen Fahnen, Wimpeln, Schals, Postern und Plakaten der "Zebras" behängt sind. Hinter fast jedem dieser Kleinode verbirgt sich eine Geschichte. Im großen Studio nebenan hängen fein säuberlich sortiert sämtliche Trikotoutfits, mit denen die MSV-Spieler seit 1963 je aufgelaufen sind, "jeweils in Lang- und Kurzarmvariante", wie Berndsen stolz erläutert.

In einem wandhohen Regal stehen weit über 150 penibel beschriftete Aktenordner, in denen Berndsen die Programmhefte, Zeitungsberichte und seine handgeschriebenen Statistiken zu allen Pflicht- und Freundschaftsspielen des MSV abgelegt hat - seit 1902 lückenlos; "ran-Datenbank", amüsiert sich Berndsen über die angeblich bahnbrechenden Fernsehstatistiker, "da lach' ich drüber." Für manche Programmhefte, die er während der letzten Jahre Zug um Zug ergänzte, hat er auf Sammlerbörsen bis zu 500 Mark berappen müssen. "Früher haben wir im Stadion Konfetti daraus gemacht und heute zahlst du dafür richtig Kohle", ärgert er sich, dass seine Sammlerleidenschaft erst spät erwacht ist.

Mit 14 hatte Berndsen Fahnenflucht begangen, war als Fan von den Hamborner "Löwen" zu den dort damals verhassten Meiderichern übergelaufen. "Bei uns in Hamborn herrschte Tristesse, und im Wedaustadion ging so richtig die Post ab." Für Berndsens fußballbegeisterten Vater "eine Todsünde". Doch der Junge setzte sich unbeirrbar durch. Der MSV ließ ihn nicht mehr los. Beinahe zu jedem Spiel folgte er fortan seinem Club, selbst zu Intertoto- und Pokalspielen nach Osteuropa, wo Berndsen mitunter alleine mit seinem Kumpel den gesamten MSV-Anhang bildete, wie 1978 zum UEFA-Cup-Spiel beim polnischen Spitzenclub Lech Posen.

Insgesamt nur sechs Spiele des MSV verpasste Berndsen in den 70er und 80er Jahren. Ausgerechnet beim legendären 6:3-Sieg der Duisburger über Bayern München steckte er im Bundeswehr-Manöver. "Mein Idol Bernhard Dietz schießt vier Tore, und ich bin nicht dabei", grämt er sich heute noch. Aber er wollte nicht ein zweites Mal in seinem Leben Fahnenflucht begehen.

Über 100.000 Kilometer war er für den MSV auf Achse, hat Tausende Arbeitsstunden in seine einzigartige Vereinssammlung investiert. Alles in allem, so schätzt er, "ist dabei bestimmt ein Einfamilienhaus draufgegangen". Berndsen: "Ich weiß, das ist nah am Wahnsinn." Doch bis heute bereut er keine Sekunde seiner Passion. Längst sei der MSV für ihn nicht mehr ein normaler Fußballclub. "Für mich ist das eine Weltanschauung, Liebe und Leidenschaft, fast 'ne kleine Religion. Einmal Zebra, immer Zebra." Selbst seine berufliche Karriere ordnet der in zweiter Ehe verheiratete Werkstofftechniker seiner Fußball-Leidenschaft unter. Lukrative Auslandsangebote oder mit Wochenendarbeit verbundene Beförderungen in seiner Stahlfirma würde er, "keine Frage, in jedem Falle ausschlagen".

Samstags braucht Berndsen den Kick im Stadion. Unter der Woche strikt nikotinabstinent wird er dort für 90 Minuten zum Kettenraucher. Der Puls rast, das Herz jagt. Jede Torraumszene durchlebt und durchleidet er auf den Stadionrängen. "Wenn es brenzlich wird, holst Du plötzlich selber aus und fängst an zu schießen, obwohl weit und breit kein Ball in der Nähe ist." Und Fußball kann so grausam sein. Wie eine persönliche Demütigung empfindet er es, wenn sein MSV vom gegnerischen Team "mal wieder an die Wand gespielt wird". Dann kommt er mitunter nach Hause und schwört seiner Frau, endlich auf Entzug zu gehen. "Aber das dauert immer nur drei, vier Tage. Ich weiß ja, wie sie spielen. Ich bin ja nichts Besseres gewohnt", macht der MSV-Fan dann in Selbstbescheidung und tröstet sich. "Bei uns wird eben Fußball gearbeitet."

Nicht mal die hohen Gehälter und Prämien, die die Profi-Kicker inzwischen auch beim MSV Duisburg abkassieren, neidet Berndsen seinen Idolen. "Mit ein bisschen Training und Talent hätte es unsereiner ja auch schaffen können", sagt der gelernte Rechtsaußen, der als aktiver Spieler pikanterweise immer nur das Trikot des Hamborner Lokalrivalen getragen hat. "Jeder verkauft sich, so gut er kann. Aber er muss in Duisburg Bodenhaftung behalten. Sonst ist er hier durch."

Beim Thema Geld ist Berndsen hin- und hergerissen. Einerseits kann er jene Clubs überhaupt nicht ab, "die mit Millionensummen um sich schmeißen und Titel sammeln wie andere Briefmarken". Er sei "stolz darauf, Fan eines Vereins zu sein, der nie im Geld geschwommen sei und sich immer nach der Decke strecken musste. Andererseits müsse sich heute auch der MSV "dem Transfergeschehen anpassen; sonst kannst du nur in den unteren Regionen spielen". Und von der Meisterschaft oder einem internationalen Pokal für den mausgrauen MSV träumt auch Berndsen. "Für mich gibt es nur einen Glauben: dass der MSV einmal einen Titel holt. Dann könnte ich beruhigt ableben." Immer wenn er auf den Vereinswimpel schaut, überkommen ihn schwere Minderwertigkeitskomplexe. Außer einer Amateurmeisterschaft hat der MSV nichts vorzuweisen in seiner mickrigen Titelsammlung.

Dafür hat der Club in 105 Jahren eine wechselvolle Geschichte durchlaufen mit Triumphen und Tragödien, mit mancherlei Dramen und etlichen Komödien. Vieles davon bewahrt Berndsen in seinem Fußballmuseum auf. Und er kann nie genug kriegen. Rastlos durch- kämmt er Keller und Garagen nach MSV-Reliquien. Zuletzt stieß er in einer verstaubten Ecke der MSV-Geschäftsstelle auf das Programmheft des "Legionärpokals", an dem der MSV 1958 in Algerien mit seinem Team um den legendären "Bubi" Hetzel teilgenommen hatte. "Ich bin da rausgekommen und habe vor Freude abgerollt", erinnert sich Berndsen.

Auch ein Weihnachtsfest vor einigen Jahren wird er so schnell nicht vergessen. An Heiligabend fand er in seinem Briefkasten die seit Monaten überfällige Autogrammpost von Helmut Rahn. "Das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk", jubilierte Berndsen unter dem Christbaum, "ausgerechnet an Heiligabend schreibt mir der Held von Bern."

Der MSV-Geschichtshüter ist ein hartnäckiger Rechercheur. Um seine Autogrammsammlung zu vervollständigen, in der alle Spieler mit Bildern und Originalunterschriften verewigt werden sollen, die je für den MSV in der Bundesliga gespielt haben, bemüht Berndsen mitunter auch Ämter und Behörden. Den ehemaligen MSV-Profi Raoul Tagliari verfolgte er bis Puerto Alegre in Brasilien, den früheren Duisburger Trainer Luis Zacarias spürte er kürzlich im peruanischen San Borjalima auf. Derzeit fehlen Berndsen noch etwa 30 Autogramme auf den bunten Fußballsammelbildchen aus der grauen Bundesliga Urzeit. "Jetzt kommen meine hartnäckigen Fälle."

Zwar hat sich Berndsen damit abgefunden, "dass ich schon wegen der Todesfälle nie ganz komplett werden kann". Aber, so sagt er "in aller Bescheidenheit", er wolle sich zeit seines Lebens in Deutschland von niemandem darin übertreffen lassen, "die kompletteste Sammlung über einen Bundesligaclub vorweisen zu können".

Über dem Türbogen seines MSV-Museums hat Berndsen ein großes Schwarz-Weiß-Bild aufgehängt, das für ihn besondere Symbolkraft hat. Es ist eine Schlüsselszene in seinem Fanleben. Das wegen der vielfachen Vergrößerung leicht unscharfe Foto stammt aus den 70er Jahren von einem Bundesliga-Heimspiel des MSV gegen Hertha BSC und zeigt ein Fahnenmeer in der Nordkurve des Wedaustadions. Die Vereinsführung des damals seit etlichen Spieltagen punktlosen MSV hatte die Fans aufgerufen, mit Fahnen und Trompeten ins Stadion zu kommen und im Gegenzug freien Eintritt gewährt. 8000 Fans folgten dem Aufruf. Natürlich auch Berndsen. Der zog mit einem sieben mal fünf Meter großen Fahnentuch ins Wedaustadion ein. "Dat Ding war so groß, dat ich alleine drei Schraubgewinde brauchte." Die MSV-Kicker erkämpften sich ein torloses Unentschieden. "Von da an ging es aufwärts, und wir schafften tatsächlich noch den Klassenerhalt." Spätestens seit diesem Zeitpunkt glaubt Berndsen an die Kraft des zwölften Mannes auf den Rängen.

Bis an sein Lebensende, so versichert Berndsen, wolle er weitersammeln, einfach alles über den MSV, dessen er habhaft werden könne. "Aufhören geht jetzt nicht mehr." In seinem Testament will er sein Lebenswerk dem Duisburger Stadtarchiv vermachen. "Wenn die Bude hier mal abfackeln sollte", sagt er mit einer ängstlich machenden Bestimmtheit und fährt mit wehmütigem Blick durch seinen Fußball-Tempel, "dann häng' ich mich auf."